Die Legenden
Die Ursprünge der Bruderschaft vom Osterlamm verlieren sich im Dunkel des 18. Jahrhunderts, im Dunkel des ausgehenden Ancien Régime. Wir wissen nicht, wann die Bruderschaft gegründet wurde, wann die Brüder das ersten Mahl am Ostermontag einnahmen. Und wo historisch Gesichertes fehlt, bemächtigt sich die Legende der Geschichte – und wird gelegentlich selber zur Geschichte – und plötzlich ist sie da, die Geschichte der Legende. Immer wieder wurde sie aufgeschrieben. Vier Beispiele:
Die Legende 1913
«Nach der Überlieferung lebten einst etliche Brüder einer Familie in arger Feindschaft miteinander. Gute Freunde wussten es nun so einzurichten, dass die unversöhnlichen Gegner sich bei einem festlichen Mahle zur Osterzeit zusammenfanden und aufrichtig versöhnten. Um diesen Geist echter Bruder- und Freundesliebe dauernd zu erhalten, wurde alsdann die sogenannte Bruderschaft des Osterlammes gegründet. Sie hatte also von Anfang an den Zweck, alljährlich die Mitglieder in trautem Kreise bei frohem Mahle und lustigem Becherklang zu vereinen und ihnen Gelegenheit zu bieten, allfällige Misshelligkeiten durch freie und offene Aussprache zu heben und gegenseitige Achtung und Freundschaft zu hegen und zu pflegen.»Imesch Dionys, Die Osterlammsbruderschaft in Brig – Geschichtliche Notizen und Mitgliederverzeichnis, Brig 1913, 5.3
Die Legende 2004
Die Legende, dass sich zwei verfeindete Brüder bei einem festlichen Mahl zur Osterzeit bleibend versöhnt haben, geht auf das 18. Jahrhundert zurück.Bruderschaft vom Osterlamm, 2004. Festbüchlein der Brüder Patrick Z’Brun, Peter Ritz und Philipp Jentsch
Die Legende 2008
Es waren einst zwei Brüder. Aber brüderlich verkehrten 11 etait une fois deux freres. Mais ils ne s’entendaient sie nicht miteinander. Vielmehr vergifteten Neid und pas comme des freres. La jalousie et l’envie Missgunst ihr Leben. Argwohn und Eifersucht empoisonnaient leur vie. Le soupcon et la defiance verdunkelten, was um sie herum war. Die Kälte der obscurcissaient tout autour d’eux. Le froid de la vilenie Gemeinheit und Niedertracht liess alles erstarren. Und et de I’infamie raidissait tout. Et leurs arnis etaient ihre Freunde waren traurig und niedergeschlagen. Doch tristes et accables. Puis revint le printemps. La nature dann kam wieder ein Frühling. Die Natur erwachte. Und s’eveiila. La fete pascale devait etre fetee Ostern sollte feierlich begangen werden. Da beschlossen solennellement. Les arnis ceciderent de respecter cette die Freunde, dieses Fest im Zeichen des auferstandenen fete dans le signe de I’agneau ressuscite. Ils Lammes zu feiern. Zu Speis und Trank luden sie die inviterent les freres ennemis Ei une fete copieuse. Et le verfeindeten Brüder ein. Und das Wunder geschah: Bei miracle survint: Le pain et le vm reveillerent leur Brot und Wein erwachte ihr Herz. Bei Speis und Trank coeur. Le repas abondant dechaina leurs langues. IIs se lösten sich ihre Zungen. Und sie erkannten das Unrecht, rendirent campte du tort. IIs s’ernbrasserent et en das sie einander getan. Sie fielen sich um den Hals und pleurant demanderent pardon l’un Ei f’autre. Et depuis unter Tränen baten sie einander um Vergebung. Die ce jour-lae et chaque annee. les arnis celebrent I’agneau Freunde aber feiern seitdem jährlich zur Osterzeit bei pascal en trinquant et en rnenant joyeuse via. frohem Mahle und lustigem Becherklang das Osterlamm.
Die Legende 2010
18. Jahrhundert, zweite Hälfte. Arger Bruderzwist in einer angesehenen Briger Familie. Wegen einer Erbschaft? Wegen einer Frau? Freunde der zerstrittenen Brüder möchten vermitteln. Sie beraten bei einem Essen in der Fastnachtszeit (Lammbraten und Gsottus). Und sind sich einig: Die Brüder müssen versöhnt werden, am besten beim festlichen Mahl. Um das Mahl zu planen, die Speisefolge festzulegen, die Weine auszuwählen, kommt man – in der Fastenzeit – zu einem zweiten Essen zusammen (diesmal Fisch). Der Ostermontag ist da. Die Freunde treffen sich zum Mahl (Fisch, Lamm, Gsottus), auch die zerstrittenen Brüder: Diese sind überrascht, einander anzutreffen, vielleicht auch verärgert. Überraschung, Ärger, Bruderzwist weichen der Versöhnung und der Bruderliebe. Unter dem Einfluss der Freunde, der aufgetragenen Speisen oder des kredenzten Weines? Und fortan trafen sich die Brüder und ihre Freunde jeden Ostermontag zum Freundesmahl. Und schufen die Bruderschaft vom Osterlamm ohne Statuten, ohne Präsident, ohne Komitee. Wohl aber mit Bräuchen. Deren wichtigster ist, dass sich die Osterlamm-Brüder jeden Ostermontag zum Mahle einfinden, geladen von einem, später zwei und heute drei Brüdern, die zu unser aller Freude – alles tun, um das Satisfecit zu erlangen. Und auf dass die Bruderschaft weiterhin gedeihe, schlagen sie – meistens! – drei ihrer Gäste zur Aufnahme in die Bruderschaft vor.»
Text: Peter Arnold. In: Bruderschaft vom Osterlamm 2010. Festbüchlein der Brüder Elmar Zurwerra, Jean-Pierre Mathieu und Pascal Willisch
Die Legende 2015/2020/21/22
Unseren Gästen sei kundgetan, dass sich um die Geschichte unserer Bruderschaft nicht wenige Legenden ranken.
Und wo der Legenden vieler sind, da präsentiert sich die Faktenlage schon mal dünn; oder: Wo viel im Ungewissen ist, da darf ebenso viel behauptet werden.
Nicht das Erreichte zählt, das Erzählte reicht.
Es haben sich so einige mit der Geschichte unserer Bruderbeschäftigt. Mehr oder weniger ausgeschmückt, die Ergüsse, – nachlesbare, gedruckte, gebundene und archivierte, gemalte gar; und nicht niedergeschriebene Varianten, natürlich.
Was wir wissen: In einem Satz verdichtet; wenig elegant zwar, dafür aber ganz ohne Pathos:
Brüder verstritten sich untereinander und haben sich beim Vertilgen eines Tieres wieder versöhnt – es soll ein Schaf gewesen sein.
Von Erich Heynen – Ein Auszug aus der Antrittsrede des Tafelmajors 2015 und der Einladung an seine persönlichen Gäste 2020, 2021 und 2022.